Die Nerds kommen

Künstler aus dem Silikon Valley und Computerautor Peter Glaser entdecken eine sonderbare Elite

"Ich denke jeder sollte eine Maschine sein." Andy Warhol

Auch wenn sie nicht so aussehen: Die "Nerds" sind die neue Elite der Informationsgesellschaft. Nerd kommt aus dem Amerikanischen und spricht sich wie Nördlingen, bloß ohne lingen und mit viel weniger ö. Der Nerd ist die Fortsetzung des Computerfreaks mit modernen Mitteln. Und die Nerds übernehmen gerade die Weltherrschaft.
Sie lesen das leuchtfarbene kalifornische High-Tech-Magazin "Wired", mögen "Ufos" und reißen sich darum Software-"Beta-Tester" (Motto: Finde den Fehler!) zu sein. Sie haben die Lösung Monate bevor normale Menschen überhaupt das Problem kennen. Wenn ein Nerd nachts in einer scharfen Kurve zwischen Felswand und Steilküste auf nasser Fahrbahn ins Rutschen kommt, sucht er den "Zurück"-Knopf, wie er ihn von seinem Internet-Navigationsprogramm kennt. Sein Hund und sein Goldfisch haben eine eigene "Homepage" im Netz. Wenn er eine Zeitschrift liest, verspürt der Nerd den unbezähmbaren Zwang, die unterstrichenen Passagen anzuklicken, wie er es aus dem Internet gewohnt ist ...
Während sich in den Fitneßcentern der alten, analogen Welt noch die Gutaussehenden und Geschmeidigen abrackern, um in jeder Beziehung vorteilhaft zu wirken, haben die Nerds längst gewonnen, in aller Stille: eine Schar unattraktiver, neurotischer Bürschchen, die aussehen, als könne man sie mit einem Löschblatt bewußtlos schlagen.
Sie tragen überall mindesten ein Gerät mit sich herum, das sie mit digitalem Lebensstoff versorgt (Festplatte oder Powerbook), um es sofort an den jeweils nächstgelegenen Rechner anzudocken. Edel-Nerds wissen genau, wo im Flughafen von Anchorage/Alaska die Steckdosen sind, an denen sich nach einem Transatlantikflug die Laptop-Akkus wieder aufladen lassen.
Die Invasion der Nerds wird angeführt von Computerstrebern wie Bill Gates. Gates ähnelt dem Klassenbesten, der nie sympathisch war, sondern nur auf eine kalte, phantasielose Art gut. Außerdem sieht er nicht gut aus - ein Nerd eben. Sex? Nerds pflanzen sich durch Knospung fort. Weibliche Nerds gibt es nicht.
Bei der Kleidung zählte für den Computerfreak der ersten Generation nur, ob die Taschen groß genug für die "3 1/2"-Zoll-Disketten waren. Der Nerd löst das Problem, indem er ein kleines Internet-Unternehmen gründet, damit an die Börse geht und Multimillionär wird, worauf er sich die besten Schneider der Welt leisten kann und in den neuen Anzügen immer noch so aussieht wie ein Nerd.

Der Nerd entfaltet sein Sozialleben im Netz oder vor dem Computer. Er "chattet", spielt "Multi-user-Games", nimmt an Debatten in obskuren Online-Zirkeln wie "alt.sex.bondage.particle.physics" teil oder schreibt "Shareware"-Programme zum Nutzen der Menschheit. Jemand, der seinen Computer nur zur Arbeit benutzt und seine Freizeit nicht im Netzt verbringt, ist kein Nerd.
Ehe sie antraten, die Weltherrschaft zu übernehmen, waren die Nerds soziale Randerscheinungen: Daddler, Raver, Science-fiction-Fans, Punks, Perverse, Unix-Programmierer, Aushilfsgenies und Verschwörungstheoretiker. Meist Spezialisten ohne richtige Ausbildung; vielen von ihnen erscheint schon die Vorstellung, eine zu haben, eine Zumutung.
Sie bilden eine eigene Gesellschaft - eine gebildete, hyperinformierte Subkultur. Toleranz wird gegenüber Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensstilen geübt - sofern sie einen Netzzugang haben. "Nerden" gibt es inzwischen auch in der Verlaufsform. Es bedeutet, online vor dem Rechner zu sitzen und endlos E-Mail zu lesen oder sonstwie interaktiv Zeit zu verplempern.
Am besten beschreibt vielleicht ein Witz die Seelenlage der Nerds, der im Internet kursiert: Ein Arzt, ein Anwalt und ein Nerd diskutieren, ob eine Ehefrau oder eine Freundin besser ist. Der Anwalt: "Eine Freundin. Wenn man eine Frau hat und sich scheiden lassen will, gibt's jede Menge Probleme." Der Arzt: "Eine Ehefrau. Das Gefühl von Sicherheit senkt den Streßpegel. Ist sehr gesund." Der Nerd: "Beides. Wenn die Frau denkt, daß du bei deiner Freundin bist, und die Freundin denkt, du bist bei deiner Frau, kannst du ein wenig programmieren."

entnommen aus Stern 22/96