"Ich denke jeder sollte eine Maschine sein." Andy Warhol
Auch wenn sie nicht so aussehen: Die "Nerds" sind die neue Elite der
Informationsgesellschaft. Nerd kommt aus dem Amerikanischen und
spricht sich wie Nördlingen, bloß ohne lingen und mit viel weniger
ö. Der Nerd ist die Fortsetzung des Computerfreaks mit modernen
Mitteln. Und die Nerds übernehmen gerade die Weltherrschaft.
Sie lesen das leuchtfarbene kalifornische High-Tech-Magazin "Wired",
mögen "Ufos" und reißen sich darum Software-"Beta-Tester" (Motto:
Finde den Fehler!) zu sein. Sie haben die Lösung Monate bevor normale
Menschen überhaupt das Problem kennen. Wenn ein Nerd nachts in einer
scharfen Kurve zwischen Felswand und Steilküste auf nasser Fahrbahn
ins Rutschen kommt, sucht er den "Zurück"-Knopf, wie er ihn von
seinem Internet-Navigationsprogramm kennt. Sein Hund und sein
Goldfisch haben eine eigene "Homepage" im Netz. Wenn er eine
Zeitschrift liest, verspürt der Nerd den unbezähmbaren Zwang, die
unterstrichenen Passagen anzuklicken, wie er es aus dem Internet
gewohnt ist ...
Während sich in den Fitneßcentern der alten, analogen Welt noch die
Gutaussehenden und Geschmeidigen abrackern, um in jeder Beziehung
vorteilhaft zu wirken, haben die Nerds längst gewonnen, in aller
Stille: eine Schar unattraktiver, neurotischer Bürschchen, die
aussehen, als könne man sie mit einem Löschblatt bewußtlos
schlagen.
Sie tragen überall mindesten ein Gerät mit sich herum, das sie mit
digitalem Lebensstoff versorgt (Festplatte oder Powerbook), um es
sofort an den jeweils nächstgelegenen Rechner anzudocken. Edel-Nerds
wissen genau, wo im Flughafen von Anchorage/Alaska die Steckdosen
sind, an denen sich nach einem Transatlantikflug die Laptop-Akkus
wieder aufladen lassen.
Die Invasion der Nerds wird angeführt von Computerstrebern wie Bill
Gates. Gates ähnelt dem Klassenbesten, der nie sympathisch war,
sondern nur auf eine kalte, phantasielose Art gut. Außerdem sieht er
nicht gut aus - ein Nerd eben. Sex? Nerds pflanzen sich durch Knospung
fort. Weibliche Nerds gibt es nicht.
Bei der Kleidung zählte für den Computerfreak der ersten Generation
nur, ob die Taschen groß genug für die "3 1/2"-Zoll-Disketten
waren. Der Nerd löst das Problem, indem er ein kleines
Internet-Unternehmen gründet, damit an die Börse geht und
Multimillionär wird, worauf er sich die besten Schneider der Welt
leisten kann und in den neuen Anzügen immer noch so aussieht wie ein
Nerd.
Der Nerd entfaltet sein Sozialleben im Netz oder vor dem
Computer. Er "chattet", spielt "Multi-user-Games", nimmt an Debatten
in obskuren Online-Zirkeln wie "alt.sex.bondage.particle.physics" teil
oder schreibt "Shareware"-Programme zum Nutzen der Menschheit. Jemand,
der seinen Computer nur zur Arbeit benutzt und seine Freizeit nicht im
Netzt verbringt, ist kein Nerd.
Ehe sie antraten, die Weltherrschaft zu übernehmen, waren die Nerds
soziale Randerscheinungen: Daddler, Raver, Science-fiction-Fans,
Punks, Perverse, Unix-Programmierer, Aushilfsgenies und
Verschwörungstheoretiker. Meist Spezialisten ohne richtige
Ausbildung; vielen von ihnen erscheint schon die Vorstellung, eine zu
haben, eine Zumutung.
Sie bilden eine eigene Gesellschaft - eine gebildete, hyperinformierte
Subkultur. Toleranz wird gegenüber Menschen mit den
unterschiedlichsten Lebensstilen geübt - sofern sie einen Netzzugang
haben. "Nerden" gibt es inzwischen auch in der Verlaufsform. Es
bedeutet, online vor dem Rechner zu sitzen und endlos E-Mail zu lesen
oder sonstwie interaktiv Zeit zu verplempern.
Am besten beschreibt vielleicht ein Witz die Seelenlage der Nerds, der
im Internet kursiert: Ein Arzt, ein Anwalt und ein Nerd diskutieren,
ob eine Ehefrau oder eine Freundin besser ist. Der Anwalt: "Eine
Freundin. Wenn man eine Frau hat und sich scheiden lassen will, gibt's
jede Menge Probleme." Der Arzt: "Eine Ehefrau. Das Gefühl von
Sicherheit senkt den Streßpegel. Ist sehr gesund." Der Nerd:
"Beides. Wenn die Frau denkt, daß du bei deiner Freundin bist, und
die Freundin denkt, du bist bei deiner Frau, kannst du ein wenig
programmieren."
entnommen aus Stern 22/96